4.Kapitel

regen17
Es ist nicht leicht mit über 50 Jahren nochmal ganz von vorne anzufangen. Wenn man jung ist, werden einem viele Chancen gegeben, die einem älteren Menschen nicht mehr gegeben werden.
Doch ich kann mich nicht beklagen. Trotz Allem läuft es bei mir schon ganz gut. Und das, obwohl klassische Gitarre offensichtlich in Deutschland lange nicht so beliebt ist wie in China. Die Deutschen mögen es offensichtlich lieber rockig und bluesig und vor allem: harmonisch einfach. Nicht, daß die Normalbürger in China komplexere Hörgewohnheiten hätten, nein gar nicht: auch sie haben mich frustriert mit ihrer Liebe zu einfachsten Karaokeliedern. Doch romantische Klänge von klassischer Gitarrenmusik sind dort überall sehr beliebt und auch in den Foyers von 5 Sterne Hotels gern gehört. Und dann noch ein wichtiger Faktor: Dort gibt es viel mehr Hotels, die live Musik in ihren Foyers anbieten und bezahlen, als hier. Dabei ist es sicherlich kostengünstiger für die Veranstalter einen klassischen Gitarristen zu buchen, als eine Band.

Heute ist Ostern. Christliche Feiertage sind in Deutschland die einfachste und häufigste Möglichkeit mit klassischer Musik etwas Geld zu verdienen, wenn auch meist nur sehr, sehr schlecht bezahlt. Ich habe mich absichtlich nicht für diese Auftritte beworben, weil ich nicht getauft bin und nicht zur Kirche gehöre. So darf ich die Feiertage in Ruhe zu Hause bleiben.

An solchen Tagen wie heute komme ich mir vor wie eine verwitwete Rentnerin. Über mir und unter mir (in unserem Haus wird auch das UG bewohnt) toben die Familienzusammenkünfte und im Park sieht man fast nur noch Familien mit Kindern oder zumindest Pärchen und Grüppchen. Die Menschen, die alleine sind, wollen alleine bleiben und fürchten von anderen gesehen zu werden. Sie schleichen verschämt und schnell an den vielen fröhlichen Gruppen vorbei als ob es ein Makel wäre alleine zu sein. Wie gut, wenn es da regnet! Das entspannt die Situation.

Doch heute war es anders. Der Park war still. Keine fröhlich tobenden Kinder. Nur so ein paar Einsame wie ich, mit oder ohne Hund. Ich, ohne Hund, aber mit Schirm.

3.Kapitel

sunsocks
Herr Gipskegel stand heute völlig verzweifelt und aufgelöst vor meiner Tür: “Sie machen mich auf der ganzen Welt lächerlich!”
“Aber Herr Gipskegel, ich habe doch gar nicht Ihren wirklichen Namen verwendet, wie sollte denn da irgend jemand einen Zusammenhang mit Ihnen entdecken?”
“Doch, man merkt, daß Sie mich beschrieben haben! Jeder, der weiß, wo wir wohnen, kann mich in Ihrem Blogbeitrag erkennen!”
“Und was schlagen Sie für eine Lösung des Problems vor?”
“Bitte löschen Sie Ihren Artikel!”
“Entschuldigen Sie, das will ich nicht. Ich habe extra in der Einleitung geschrieben, daß es sich bei all meinen Geschichten nicht um wirkliche Personen handelt, sondern um Erfindungen von mir! Und Sie heißen doch gar nicht Herr Gipskegel!”

Aber irgendwie tat er mir leid. Herr Gipskegel, dessen eigenartiges Verhalten sicherlich auf traumatische Erfahrungen zurückzuführen ist und der sogar etwas Gitarre spielen kann!

Themenwechsel: ich denke, daß die Ereignisse, die bei Menschen gute Laune auslösen können, individuell sehr verschieden sind. Umgekehrt gibt es bei den Ereignissen, die zwingend schlechte Laune beim Betroffenen hervorrufen, oft gewisse Übereinstimmungen. Das Thema mit der schlechten Laune ist zu offensichtlich, um es ernsthaft zu diskutieren. Viel interessanter dagegen ist es zu untersuchen, wie man bei seinen Mitbürgern gute Laune provozieren kann. Ich experimentiere da schon längere Zeit. Heute habe ich beim Penny, als sich vor zwei Kassen lange Warteschlangen gebildet haben, angefangen, mit meinem Nachbarn aus der Nebenschlange zu wetten, wer zuerst an der Kasse sei. Unser Pfand war ein Toms Erdnußriegel. Ich habe knapp verloren und dann den Erdnußriegel verschenkt, konnte es aber nicht lassen, mir selber auch einen zu kaufen. LECKER. Damit habe ich bei diesem mir ansonsten vollkommen unbekannten Menschen eine Euphorie ausgelöst! Ich wurde mit den besten Wünschen überschüttet und aufs herzlichste verabschiedet. Und nicht nur wir beide waren plötzlich in bester Laune.

2.Kapitel

Mir gegenüber wohnt ein Mann, der von seiner Frau geschieden ist und immer wieder von seinem pubertierenden, aber schüchternen Sohn besucht wird. Dieser Nachbar heißt Herr Gipskegel. Ich bin mir nicht sicher ob er arbeitslos ist, oder Teilzeit beschäftigt, jedenfalls ist er seit einiger Zeit fast so viel zu Hause wie ich, und das will was heißen. Er ist Nichtraucher , schlank, trägt Locken und Brille und jedes Mal, wenn er vom Friseur kommt, tagelang eine Baseball Kappe. Er liebt es seine Einkäufe per Online Bestellung zu erledigen, doch schafft er es irgendwie nicht in den Minuten zu Hause zu sein, in denen die Post kommt. Ich dagegen bin immer da, sitze am späten Vormittag meistens mit meinem Kaffee im geöffneten Fenster und lasse mir die Sonnenstrahlen ins Gesicht scheinen. Deswegen wollen die Postboten mir immer seine Pakete überreichen. Früher habe ich die auch mal angenommen, um meinem Nachbarn einen kleinen Gefallen zu erweisen. Doch er fand das gar nicht lustig, sondern hat mich darum gebeten so etwas nie mehr wieder zu machen. Denn einmal merkte er ein paar Tage nicht, daß sein Paket bei mir war, weil der Postbote vergessen hatte, ihm eine Benachrichtigung in den Briefkasten zu werfen. Seitdem fühle ich mich bemüßigt allen Nachbarn, deren Pakete bei mir lagern, selber schnellstmöglich Bescheid zu sagen. Doch Herrn Gipskegels Pakete nehme ich gar nicht mehr an. Er will es wirklich nicht. Die Postboten allerdings drängen mir seine Pakete regelrecht auf und versuchen mich sogar auszutricksen. Zum Beispiel klingeln sie bei mir, damit ich ein Paket von einem anderen Nachbarn entgegen nehme. Während ich unterschreibe, ziehen sie dann aber schnell auch Herrn Gipskegels Pakete ab und stellen sie ihm vor die Tür. Herr Gipskegel schreibt mir dann empörte Briefe, was mir denn einfalle, daß ich ihm nun einfach die Pakete vor die Tür stelle…er erinnert mich mit dieser Reaktion ein bisschen an unseren kleinen Hund aus dem dritten Stock, der sich ja auch immer schrecklich aufregt. Ich dagegen bin eher so eine Katzendame. Wir habe uns deswegen mindestens drei Wochen lang nicht gegrüßt, aber heute habe ich gesehen, daß er mir heimlich zunickt. Er traut sich noch nicht, einfach so zu tun als ob nichts gewesen wäre und entschuldigen will er sich auch nicht. Macht nichts. Ich bin da relativ nachsichtig.

Kapitel 1

Ich lebe im Hochparterre. Zuerst war mir das fast zu öffentlich, denn wenn ich Abends die Lichter an drehe, kann man von der gegenüberliegenden Straßenseite durch meine ganze Wohnung hindurchschauen, falls ich die Badezimmer Tür nicht zu mache, sieht man sogar dort hinein. Ich muß also, wenn ich nicht gesehen werden will, die Läden schließen. Zu Beginn hatte ich sehr alte Holzfenster, die jedes Geräusch ungefiltert in meine Wohnung ließen. Ich hörte jedes Wort, das die Menschen im Vorübergehen sprachen und umgekehrt hörte auch jeder meine Gitarre. Inzwischen habe ich moderne Fenster mit Lärmschutz Klasse 1. Ein gewisses Abgrenzungsbedürfnis kann ich mir nicht abgewöhnen. Nun bestimme ich selbst, wie sehr ich mit der Außenwelt verbunden sein möchte. Manchmal sitze ich Abends bei geöffneten Fenstern auf dem Sofa und genieße die Schritte und die Stimmen, die an mir vorüberziehen. Wenn die Sonne scheint, trinke ich meinen Kaffee bei geöffnetem Fenster auf dem Fensterbrett.

Fenst1

Gegenüber befindet sich eine Fabrik. Bis heute weiß ich nicht, was dort fabriziert wird. Täglich kommen dort viele Lastwagen an. Außer der Fabrik gibt es noch einen Rewe und ein Asia Geschäft. Und ein paar Schritte weiter liegt ein thailändisches Restaurant neben einem Bistro-Cafe. Ansonsten wird unsere Straße vor allem zum Parken benutzt. Am Ende der Straße gibt es ein Areal mit Steinen zum Sitzen und einen Kinderspielplatz.

Mein Haus ist voller freundlicher Menschen. Die Nachbarn sind alle tolerant und hilfsbereit. Sie akzeptieren meine Musik. Wäre die Welt so friedlich wie unsere Hausgemeinschaft, könnte man an ein Paradies auf Erden denken. Trotzdem ist es bei uns nicht langweilig.

Denn, zumindest in der Tierwelt knistern die Emotionen: Mister Pinli ist ein kleiner Hund, der etwa so groß ist wie Rabbit, der allerdings trotz seines Namens kein Hase, sondern ein Kater ist. Mister Pinli muß die Treppen hinunter getragen werden. Er wohnt im dritten Stock und darf etwa zweimal am Tag kurz raus. Allerdings nur an der Leine. Noch ein Grund mehr, den fetten, weiß – ocker gefleckten Kater zu hassen. Rabbit dagegen hat eine Freundin, die ihn auf Distanz hält. Sie ist eine eher schlanke Katzendame und verteidigt das Revier unterhalb unseres Hauses gegen den Kater und noch einen Mops, der allerdings nicht wirklich zählt, da er meistens in Begleitung eines Menschen Gassi geht. Nur das orangene Eichhörnchen ist flinker als die Katzendame. Überhaupt scheinen die meisten Hunde sich hier relativ resigniert in ihr Leben an der Leine zu fügen. Nur Mister Pinli leider nicht, was sich in Form von wütendem Bellen äußert. Wir bedauern ihn alle, doch das scheint ihm nicht zu helfen.